Und die Einleitung der 103. Symphonie ist vielleicht die aufregendste und ungewöhnlichste, die Haydn je geschrieben hat. Sie beginnt, ungemein gewagt, mit dem geheimnisvollen Trommelwirbel, dem dieses Werk ihren Beinamen verdankt. Auf dieses ferne Donnergrollen folgt ein düsteres und kraftvolles Motiv der Fagotte, Celli und Kontrabässe, das offenbar von dem Dies Irae, einem alten römisch-katholischen Totenlied, inspiriert ist und das dann plötzlich von einem herrlich unbeschwerten Allegro con spirito, einer Musik von scheinbar wunderbarer Unschuld, vertrieben wird – bis wir bemerken, dass die flatternden und tanzenden Melodien im oberen Register allesamt subtile Abwandlungen des dunklen Anfangsliedes sind. Um es zu wiederholen: »unaufhörliche Vielfalt«, die sich aus einer einzigen Idee ableitet.
Tatsächlich dürfte das Londoner Publikum zu Haydns Zeit, das überwiegend aus englischen Protestanten bestand, diese religiösen Anspielungen eines zutiefst katholischen Komponisten wohl kaum bemerkt haben. Aber wir wissen, dass solche Dinge für Haydn von großer Bedeutung waren. Im August 1794 hatte er bei einem Landaufenthalt im Süden Londons reumütig festgestellt: »Hier sind Ueberreste einer Abtey, die schon 600 Jahre steht. Ich muß gestehen, daß, so oft ich diese schöne Wildniß betrachtete, mein Herz beklemmt wurde, daß alles dieses einst unter meiner Religion stand.«
Es war aber nicht nur dieser Aspekt der Sinfonie, der dem Publikum der Londoner Uraufführung entgangen sein dürfte. Denn sosehr man ohne Frage die Klänge der rustikalen Jagdhörner goutierte, die durch den dritten und vierten Satz der Sinfonie ertönen, und sosehr man auch den aufregenden und etwas mysteriösen Militärmarsch zu würdigen wusste, der in den Variationen des Andante im zweiten Satz Formen annimmt – er wurde bei dieser Aufführung als ›Zugabe‹ gespielt, zweifellos wegen seiner Verwandtschaft mit dem damals schon äußerst beliebten langsamen Satz der 100., der ›Militärsymphonie‹ –, so wenig werden die deutlich volkstümlichen Melodien im Andante des zweiten Satzes und im energiegeladenen Finale von den Zuschauern bemerkt worden sein.
Als im 19. Jahrhundert der musikalische Nationalismus seine Blüten trieb, wurde ernsthaft behauptet, dass es sich bei den Melodien, auf die Haydn hier zurückgreift, um kroatische Tänze und Lieder handele, die er während seiner Kindheit in den österreichisch-ungarischen Grenzgebieten gehört habe, wo diese Musik populär war. Die moderne Forschung steht dieser Idee eher skeptisch gegenüber. Und vielleicht werden wir nie erfahren, wie direkt sich Haydn bestimmter Einflüsse bedient hat. Aber eines ist klar: In all das, was er im Winter 1794/95 in England für sein Londoner Publikum komponierte, ließ er mit Sicherheit die Art von Musik einfließen, die er sein Leben lang in seinem Heimatland gehört hatte – so wie das Dies irae, das er seit seiner frühen Kindheit als Chorknabe in Wien kannte. Und als sich Haydns Zeit in England ihrem Ende zuneigte, wandten sich seine Gedanken offenbar wieder dorthin zurück, woher er gekommen war.